Am 9. August ist es drei Jahre her, dass der belarusische Diktator Alexander Lukaschenko seinen Sieg bei den gefälschten Wahlen verkündete und die darauf folgenden landesweiten Proteste brutal niederschlagen lies. Anlässlich des Jahrestages hat Libereco in Zusammenarbeit mit dem belarusischen Menschenrechtszentrum Viasna neue Zahlen und Augenzeugenberichte zusammengetragen, die  drei Jahre Protest und Repressionen zusammenfassen.

Im Sommer 2020 ist es in Belarus zu den größten Demonstrationen seit der Unabhängigkeit des Landes gekommen. Hunderttausende Menschen forderten damals demokratische Reformen und die Achtung der auch in der Verfassung verankerten Grund- und Menschenrechte. Seit diesen friedlichen Protesten gegen das Regime des langjährigen Diktators Alexander Lukaschenko hat die Verfolgung politischer Gegner stark zugenommen. Mittlerweile kommt es zu einer umfassenden Unterdrückung aller Personen, die abweichende Meinungen oder auch nur leiseste Kritik äußern, zum Beispiel an der Unterstützung des belarusischen Regimes für Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Libereco – Partnership for Human Rights und das belarusische Menschenrechtszentrum Viasna haben nun neue Daten und Augenzeugenberichte zusammengetragen, die den alltäglichen Staatsterror zeigen, dem die Menschen in Belarus ausgesetzt sind:

    • In den letzten drei Jahren wurden mehr als 40.000 Menschen verhaftet und mindestens 3.788 Personen in politisch motivierten Strafverfahren (auch in Abwesenheit) verurteilt.
    • Insgesamt hat Viasna seit August 2020 2.419 Personen als politische Gefangene anerkannt, von denen aktuell 1.486 inhaftiert sind – 1.321 Männer, 164 Frauen und eine Transgender-Person.
    • Drei Personen – Vitold Ashurak, Mikalai Klimovich und Ales Pushkin – sind während ihrer Haft im Gefängnis gestorben.
    • Nach wie vor ist auch der Friedensnobelpreisträger Ales Bialiatski inhaftiert, er wurde Anfang 2023 zu zehn Jahren Haft verurteilt. Im Gefängnis werden prominentere politische Gefangene wie Bialiatski in Isolationshaft gehalten und ihnen wird rechtliche und medizinische Hilfe verweigert. So gibt es etwa von Viktar Babaryka und Maria Kalesnikava seit Monaten kein Lebenszeichen mehr.
    • Alle politischen Gefangenen sind Schikanen, physischer und psychischer Folter sowie Misshandlungen ausgesetzt. Um sie direkt und indirekt zu unterstützen, hat Libereco bereits 2020 die Patenschaftskampagne #WeStandBYyou gestartet. Bislang haben 388 Abgeordnete aus 23 europäischen Ländern symbolisch die Patenschaft für einen belarusischen politischen Gefangenen übernommen.
    • Der jüngste derzeitige politische Gefangene ist 15 Jahre alt, der älteste 75 Jahre.
    • 18 Personen, darunter 2 Frauen, wurden zu 20 oder mehr Jahren Haft verurteilt.
    • Für 55 Personen wurde die Haft von Straflager zu Gefängnis verschärft, 28 Personen wurden wegen angeblicher Verstöße gegen die Gefängnisregeln verurteilt.
    • 33 Personen wurden begnadigt, 6 erhielten eine Amnestie.

Stimmen aus Belarus

Darüber hinaus hat Libereco ehemalige politische Gefangene und Angehörige von derzeit Inhaftierten zu ihren Erinnerungen an den 9. August 2020 befragt. Wir wollten von ihnen wissen, was die letzten drei Jahre für sie bedeutet haben und wie sie die aktuelle Situation in Belarus sehen. Aus Sicherheitsgründen bleiben die Befragten anonym, Libereco kennt ihre Identitäten.

Mutter eines in Haft befindlichen politischen Gefangenen, die noch immer in Belarus lebt:

„Ich hätte mir ein solches Ausmaß an Solidarität und Unterstützung von Belarusen für Belarusen nicht einmal erträumen können. Ich denke, dass die Menschen aus Belarus zum ersten Mal der ganzen Welt ihr wahres Gesicht gezeigt haben. Das war unglaublich.“

„Belarus im Jahr 2023 ist wie ein brennendes Moor. Du kannst die Flammen nicht sehen, aber deine Beine brennen. Und einen Augenblick später kann alles in Flammen stehen. Nicht jede Generation hat die Möglichkeit, etwas Großes für ihr Land zu tun. Wir haben in diesem Sinne Glück, und das ist das Wichtigste.“

Ehefrau eines politischen Gefangenen, die mittlerweile im Exil lebt:

„Am meisten beeindruckt haben mich meine Mitmenschen, ihre Leidenschaft, ihre Aufopferung, ihr Durst nach Wahrheit und Gerechtigkeit, ihre Aufrichtigkeit und ihr Wunsch, ihr Land zum Besseren zu verändern. Dazu kommen die Ideale, die sich in ihren Worten, Taten und Zielen ausdrücken. Keiner von ihnen empfand unmenschliche Wut oder Hass gegenüber seinen Feinden, auch nicht nach der Ermordung unserer Bürger. Gott ist Zeuge, kein Belaruse wollte Blut oder Folter. Die Gewalt, die das Regime den Menschen angetan hat, zeugt von der animalischen Angst des Bösen und allen, die Teil dieses unmenschlichen Systems sind, zur Rechenschaft gezogen zu werden.“

„Aber das Interessanteste ist, dass das Potenzial der Proteste immer noch lebendig ist, selbst nach drei Jahren andauernder Unterdrückung. Die Belarusen haben ihre Hoffnung nicht verloren und nicht kapituliert. Sie warten geduldig auf die Stunde, die meiner Meinung nach bald kommen wird. Heute lebt unser Land in einer Atmosphäre der Angst und des Misstrauens. Einige Menschen, die das Gefühl haben, dass ihre Handlungen keine Konsequenzen haben, begehen illegale Handlungen und terrorisieren die Bevölkerung. Und die anderen versuchen sich auf jede erdenkliche Weise vor den Terroristen zu schützen.“

„Die interne Okkupation durch das Regime wurde durch die externe Okkupation durch Russland ersetzt. Hier wird alles von der ‚russischen Welt‘ (Russki Mir) und ihren Kollaborateuren beherrscht. Die lokalen Behörden zerstören alles, was auch nur im Entferntesten mit dem Belarusischen, mit unserer Geschichte und Kultur zu tun hat. Parallel dazu versuchen sie in die Köpfe der Menschen ihre eigene Vorstellungen des Krieges [in der Ukraine] einzupflanzen. Die staatliche Propaganda zielt darauf ab, die Bevölkerung zu militarisieren. Die staatlichen Ideologen sind mit ihren ‚patriotischen Ideen‘ bereits in die Kindergärten eingedrungen. Sie versuchen, die Psyche der Kinder zu zerstören. Und sie ermutigen die Menschen, sich gegenseitig zu bespitzeln. Es scheint, dass wir wieder in den 1930er Jahren leben.“

Ein ehemaliger politischer Gefangener, der wegen seiner Teilnahme an den Protesten 1,5 Jahre hinter Gittern verbrachte und vor Kurzem nach Deutschland geflohen ist:

„Ich hätte anfangs nicht gedacht, dass der Monat so ereignisreich werden würde. Ich arbeitete damals 15 Stunden am Stück zu Hause, meist nachts, und bekam kaum etwas von den Nachrichten in der Welt mit. In den ersten Augusttagen bemerkte ich in fast jedem Hof kleine Zettel mit der Aufschrift ‚3%‘ [‚3%‘ wurde zu einem beliebten Slogan der Opposition für die geringe tatsächliche Unterstützung, die Lukaschenko in der belarusischen Gesellschaft genießt]. Ehrlich gesagt, dachte ich damals, es handele sich um eine Art Ausverkauf in einem örtlichen Geschäft. Ein Freund hat mir dann erklärt, worum es geht. Aber selbst danach war ich mir unsicher, ob das alles so ernst gemeint war.“

„Heute geht es in der belarusischen Demokratiebewegung nicht so sehr um die richtige Lebensweise, sondern um den Kampf gegen die falsche. Und ich würde genau diesen Kontrast zwischen einem winzigen Lichtstrahl der Wahrheit und einer riesigen Leere der Unwissenheit in den Vordergrund stellen. Denn die Idee, dass die Minderheit richtig liegt, ist das Wichtigste.“