Mit einem Offenen Brief bitten 21 Unterzeichnerinnen und Unterzeichner aus der Schweizer Zivilgesellschaft die Mitglieder des Schweizer Nationalrats darum, den Holodomor in der Ukraine der 1930er Jahre als Genozid anzuerkennen.


Anmerkung, Juni 2023: Die Abstimmung des Nationalrats zur Anerkennung des Holodomors als Völkermord war für den 8. Juni 2023 vorgesehen. Das Traktandum musste kurzfristig verschoben werden. Es wird voraussichtlich in der Herbst- oder Wintersession 2023 verhandelt.


In der damaligen ukrainischen Sowjetrepublik verhungerten Anfang der 1930er Jahre Millionen Menschen, nachdem Sowjetführer Josef Stalin und seine Helfer vorsätzlich eine Hungersnot verursacht hatten. Stalin liess mit Absicht das Getreide der Bauern konfiszieren, sodass die Menschen verhungerten. Während die Sowjetunion weiterhin Getreide exportierte, wurden Nahrungsmittelvorräte nicht an die Bevölkerung verteilt. Damit sollte der Widerstand der selbstständigen Landwirte gegen die Zwangskollektivierung ihrer Höfe gebrochen werden. Damit verbunden war auch die Unterdrückung der ukrainischen Sprache und Kultur, die Stalin als Gefahr für seine Herrschaft über die Ukraine betrachtete.

Die meisten Opfer des Holodomor waren Bauernfamilien auf dem Land. In den Städten wurden diejenigen verfolgt, die unter Verdacht standen, der ukrainischen Kultur nahezustehen. Zehntausende Politiker, Lehrerinnen, Künstler und Intellektuelle wurden verhaftet, in Arbeitslager deportiert oder exekutiert. Die Wissenschaft geht von 4 bis 7 Millionen Todesopfern infolge des Holodomor in der Ukraine aus.

Raphael Lemkin, der den Begriff «Völkermord» prägte und der Begründer der Völkermordkonvention der Vereinten Nationen war, sagte bereits 1953 in seiner Rede zum Sowjetischen Genozid in der Ukraine: «Dies ist nicht einfach ein Fall von Massenmord. Es handelt sich um einen Genozid, um die Zerstörung nicht nur von Individuen, sondern einer Kultur und einer Nation».

Im Schweizer Nationalrat findet am 8. Juni 2023 eine Abstimmung darüber statt, ob der Holodomor als Völkermord gegen die ukrainische Bevölkerung eingestuft wird. Weltweit haben bereits 29 Parlamente den Holodomor als Völkermord anerkannt – zuletzt das slowenische und britische Parlament am 23. bzw. 25. Mai 2023.

Im Offenen Brief an die Mitglieder des Schweizer Nationalrats heisst es, die Anerkennung des Holodomor als Genozid sei wichtig «um der Leugnung und Verharmlosung der Verbrechen Stalins entgegenzuwirken und die verzerrte Geschichtsdarstellung Putins, aus der er in die Ukraine reichende Machtansprüche ableitet, zu entlarven». Die Weltgemeinschaft habe jahrzehntelang zum Verbrechen des Holodomor geschwiegen. Heute sei die nationale Integrität und Souveränität der Ukraine erneut bedroht: «Die Ukrainerinnen und Ukrainer sind aufgrund ihres Strebens nach Freiheit, Unabhängigkeit und Demokratie unaussprechlichem Leid ausgesetzt. Dem müssen wir als freiheitliche Demokratie entschieden entgegentreten».

Die 21 Unterzeichnerinnen und Unterzeichner des Offenen Briefs bitten die Mitglieder des Schweizer Nationalrats darum, sich auf die Seite der Menschen in der Ukraine zu stellen: «Bitte anerkennen Sie den Holodomor als Völkermord. Denn vergangenes Unrecht muss als solches benannt werden, um gegenwärtige Verbrechen erkennen und beenden zu können». 

 

Offener Brief: Anerkennung des Holodomor als Genozid

Der Offene Brief im Wortlaut:

An die Mitglieder des Nationalrats

Sehr geehrte Damen und Herren

Anfang der 1930er Jahre ereignete sich in Teilen der Sowjetunion eines der grössten Verbrechen des 20. Jahrhunderts. Forschende schätzen, dass mindestens vier Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer der von Josef Stalin orchestrierten Hungerkatastrophe zum Opfer fielen, die in der Ukraine Holodomor genannt wird - Tötung durch Hunger.

Ziel der mit Absicht herbeigeführten Hungersnot war es, den Widerstand der selbständigen Bäuerinnen und Bauern gegen die Verstaatlichungen zu brechen. Parallel dazu führte die sowjetische Führung einen Feldzug gegen das ukrainische Nationalbewusstsein und die ukrainische Kultur.

Die bis dahin blutigste politische Säuberungskampagne in der Geschichte der Sowjetunion richtete sich gegen die ukrainischen Nationalkommunisten und die nationale ukrainische Intelligenz. Allerdings konnte jeder Opfer werden, der verdächtigt wurde, der ukrainischen Kultur nahe zu stehen. Zehntausende Politiker, Lehrerinnen, Kunstschaffende und Intellektuelle wurden verhaftet, in Arbeitslager deportiert oder exekutiert.

Der Experte für Internationales Strafrecht und Begründer des heute rechtlich genutzten Genozid-Begriffs, Raphael Lemkin, nannte den Holodomor und die damit eingehende Verfolgung der ukrainischen Kultur und Identität «das klassische Beispiel für den sowjetischen Genozid».   

Im Schweizer Nationalrat findet am 8. Juni 2023 eine Abstimmung darüber statt, ob der Holodomor als Völkermord gegen die ukrainische Bevölkerung eingestuft wird. Weltweit haben bereits 29 Parlamente den Holodomor als Völkermord anerkannt - zuletzt das slowenische und britische Parlament am 23. bzw. 25. Mai 2023.

Die Anerkennung ist wichtig, um der Leugnung und Verharmlosung der Verbrechen Stalins entgegenzuwirken und die verzerrte Geschichtsdarstellung Putins, aus der er in die Ukraine reichende Machtansprüche ableitet, zu entlarven. Bis in die späten 1980er Jahre wurde der Holodomor in der Sowjetunion zensiert. Russland streitet bis heute die Tragweite der Hungersnot ab. Erst kürzlich entfernten russische Besatzer ukrainischer Gebiete die dortigen Denkmäler für die Opfer des Holodomor.

90 Jahre nach dem Holodomor sehen wir, dass Russland in der Ukraine Verbrechen gegen die Menschlichkeit und schwerste Kriegsverbrechen begeht. Die heutigen Verbrechen weisen gemäss Art. 2 des Übereinkommens vom 9. Dezember 1948 über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes zumindest genozidale Züge auf, so beispielsweise die in Orten wie Butscha oder Irpin begangene Folter und gezielte Tötungen von Zivilpersonen sowie die erzwungene Deportation ukrainischer Kinder nach Russland. Es ist umfangreich dokumentiert, dass Äusserungen ukrainischer Identität in Form der ukrainischen Sprache oder der ukrainischen Flagge in von Russland okkupierten ukrainischen Gebieten brutal geahndet werden.

Die Weltgemeinschaft hat jahrzehntelang zum Verbrechen des Holodomor geschwiegen. Heute ist die nationale Integrität und Souveränität der Ukraine erneut bedroht. Die Ukrainerinnen und Ukrainer sind aufgrund ihres Strebens nach Freiheit, Unabhängigkeit und Demokratie unaussprechlichem Leid ausgesetzt. Dem müssen wir als freiheitliche Demokratie entschieden entgegentreten. 

Wir bitten Sie deshalb als Mitglieder des Schweizer Nationalrats darum, sich auf die Seite der Menschen in der Ukraine zu stellen, die sich seit Jahrhunderten wiederholt gegen russisch-sowjetische Unterdrückung wehren. Bitte anerkennen Sie den Holodomor als Völkermord. Denn vergangenes Unrecht muss als solches benannt werden, um gegenwärtige Verbrechen erkennen und beenden zu können.

Mit freundlichen Grüssen

Matteï Batruch, Co-Präsident Zürich Hilft der Ukraine ZhdU
Adi Blum, Vorstandsmitglied DeutschSchweizer PEN Zentrum
Lars Bünger, Präsident Libereco - Partnership for Human Rights
Andreas Freimüller, Co-Geschäftsführer Campax
Anja Gada, Politische Sekretärin GSoA
Andrej N. Lushnycky, Präsident Ukrainischer Verein in der Schweiz
Dr. med. Conrad E. Müller, Präsident Stiftung Pro UKBB
Stefan Müller, Geschäftsführer und Vorstandsmitglied Osteuropahilfe
Andrea Nagel, Geschäftsleiterin cfd Die feministische Friedensorganisation
Nadiia Olarean, Präsidentin Ukraine Reborn
Francine Perret, Vorstandsmitglied Schweizerischer Friedensrat
Maryna Romanenko, Präsidentin Association D
Jean Rossiaud, Co-Präsident GE CARE Ukraine
Bettina Ryser Ndeye, Generalsekretärin von ACAT-Schweiz
Michail Schischkin, Schriftsteller
Regula Spalinger, Geschäftsführerin Kommunikation Ost-West
Aliaksandr Vashkevich, Präsident Belarusisch-Schweizer Verein "RAZAM.CH"
Emilia von Albertini, Co-Präsidentin St. Gallen Helps Ukraine
Christoph Wiedmer, Co-Geschäftsleiter Gesellschaft für bedrohte Völker
Jean Ziegler, Berater UN-Menschenrechtsrat
Nathalia Zimmermann, Leiterin Ostwärts-Programm SCI Schweiz

5. Juni 2023