Eine Weihnachtsgeschichte aus Charkiw, geschrieben von Libereco-Mitarbeiterin Ira Ganzhorn:

Charkiw-Saltiwka, 26.12.2022

Seit den frühen Mittagsstunden sitzen wir zusammen. Meine Grosstante Valentina, ihr Ehemann Boris und ihr Sohn Jurii, mein Cousin. Wir sitzen in ihrer Zwei-Zimmer Wohnung, im Stadtteil Saltiwka.

Seit über 30 Jahren wohnen Valentina und Boris hier. Als frisch verheiratetes Ehepaar sind sie eingezogen, haben sich eingerichtet, ihr Leben aufgebaut. Zwei Kinder bekommen, Karriere gemacht. Sich zur Ruhe gesetzt.

Ihr ganzes Leben ist in dieser Wohnung, weit über 60 Jahre Erinnerungen leben in den Wänden.

Auf dem Esszimmertisch liegen Fotoalben, sorgfältig nach den Jahrzehnten sortiert. In den letzten Stunden haben mich Valentina und Boris durch die vergangenen Jahrzehnte geführt, Anekdoten wiedergegeben. Sechs Jahrzehnte im Schnelldurchlauf, in einem Zeitraffer, extra für mich.

Aus einem Meer von Erinnerungen, in das wir gerne eingetaucht sind, holte uns der Stromausfall in die Realität – wir befinden uns nicht auf ihrer sommerlichen Datscha umgeben von Obstbäumen. Wir sind mitten im Krieg, keine 20 km von der russischen Grenze entfernt und die Raketen könnten jederzeit das Wohnzimmer treffen.

Stromausfälle gehen oft den Luftangriffen voraus, erklärt Boris. Seit dem 24. Februar 2022 leben sie unter konstanten Beschuss. Viel Zeit, sich mit den Spielregeln des Terrors vertraut zu machen.

„Es ist so, als könnte ich die Angriffe in meinen Knochen spüren“, sagt mein Grossonkel. Als ob sich das Nervensystem darauf eingestellt hätte und frühzeitig warnt. Kaum beendet er seine Ausführungen, ertönt in nicht allzu weiter Entfernung die erste Explosion. Ein Geräusch, das ich nicht beschreiben kann, aber immer und überall wiedererkennen werde. Wenige Sekunden später ertönt der Luftalarm, zusammen mit ihm der nächste Einschlag – schon deutlich näher.

Der Luftalarm kommt nicht rechtzeitig. Zu nahe ist die Grenze, zu schnell die Raketen. Das Militär sagt, sie brauchen nur 30 Sekunden, um von der Grenze in unseren Stadtteil zu fliegen. Kein Flugabwehrsystem kann hier noch helfen. Der nächste Einschlag kommt, die Fensterscheiben zittern. Wir schätzen die Entfernung, vielleicht noch 500 Meter zwischen uns und den Raketen, an diesem Weihnachtsfeiertag.

Mein Grossonkel Boris schenkt mir einen Schluck Cognac nach. „Wenn sie uns treffen, dann sterben wir wenigstens zusammen“, sagt er. Wir stossen an und wissen gar nicht, was genau. Auf unser Wiedersehen, auf den zukünftigen Sieg oder auf die Tatsache, dass wir heute wenigstens zusammen sterben würden.

Ein weiterer Schluck Cognac, eine weitere Explosion. Die Raketen sind zu schnell und wir zu weit weg vom Luftschutzkeller. Meine Tante und mein Onkel sind 86 Jahre alt, an ein schnelles Hinabsteigen der fünf Stockwerke in den Keller ist nicht zu denken. An ein Hinabsteigen ohne sie auch nicht.

Was sich wie eine Ewigkeit anfühlt, sind in Wahrheit nicht einmal zwei Minuten. Fünf Explosionen, ein Glas Cognac. „Unsere neue Zeitrechnung“, lachen wir gemeinsam. Meine Tante wischt sich eine Träne weg. „Du bist doch noch so jung, das ganze Leben sollte noch vor dir sein.“ Sie ist wütend, möchte nicht, dass ich mein Leben für das ihre riskiere. Auch ich bin wütend, weil ich vor diese unmögliche Wahl gestellt werde und doch schon längst gewählt habe.

Ein Schluck Cognac darauf, dass wir heute nicht von einer Rakete getroffen wurden.

Ein Schluck Cognac darauf, dass wenn doch, wir wenigstens zusammen gestorben wären.

Warme Mahlzeiten im Umland von Charkiw

Über 100’000 Menschen in der Region Charkiw haben keinen Zugang zu Lebensmittelgeschäften. Insbesondere in der Peripherie ist auch die Versorgung mit humanitärer Hilfe beschränkt. Aufgrund der Einschränkungen in Strom- und Gasversorgung ist nicht nur das Heizen, sondern auch das Kochen oft schwierig. 

Das von Libereco unterstützte Suppenküchen-Projekt bereitet warme Mahlzeiten zu und teilt sie im Umland Charkiws aus. So stellen unsere lokalen Partner sicher, dass auch Menschen ohne Kochmöglichkeit Zugang zu gesunden und warmen Mahlzeiten erhalten.

Mit einer Spende von 3,50 Euro bzw. 3,50 Franken ermöglichst du die Bereitstellung einer umfangreichen Mahlzeit. (Suppe, Hauptgang und Salat). Danke für deine Unterstützung!