Am 19. September 2020 nahm die schweizerisch-belarusische Doppelbürgerin Natallia Hersche in Minsk an einer Frauenkundgebung teil. Dabei wurde sie willkürlich verhaftet und zu 2 Jahren und 6 Monaten Haft verurteilt. Hersche wird von Menschenrechtsorganisationen als politische Gefangene betrachtet – und dennoch bleiben diplomatische Bemühungen der Schweiz um ihre Freilassung beinahe ganz aus. Nun fordert eine breite Frauen-Allianz von 36 Unterzeichnerinnen den Aussenminister und Bundespräsidenten Ignazio Cassis in einem offenen Brief zu entschiedenem Handeln auf:

Die Oppositionsbewegung in Belarus wurde vom Frauentrio Swetlana Tichanowskaja, Valeria Tsepkalo und Maria Kolesnikowa angeführt. Die Frauenmärsche des Jahres 2020 waren starke und friedliche Zeichen gegen das Regime und für die Demokratie. Laut einem Bericht von Amnesty International sind Frauen seither jedoch auch überproportional von Menschenrechtsverletzungen durch das Lukaschenko-Regime betroffen.

Von der gewaltsamen Unterdrückung der Demokratie-Bewegung ist auch Natallia Hersche betroffen, als eine von mittlerweile fast 1000 politischen Gefangenen des Lukaschenko-Regimes.

Natallia Hersche ist die einzige politische Gefangene in Belarus, die gleichzeitig Bürgerin einer westlichen Demokratie ist. Die diplomatischen Bemühungen der Schweiz um ihre Freilassung waren bis anhin jedoch unzureichend und erfolglos. Dies kritisiert auch die belarusische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja in einem Interview mit dem Tages-Anzeiger: «Der Name Natallia Hersche sollte überall in Eurem Land bekannt sein. Es kann viel getan werden, also tut es einfach! Denn wir sind am kämpfen – und wir bitten die Schweiz, aktiver zu sein! Sie können nicht mit einem Verbrecher kommunizieren oder kooperieren, der Tausende von Belarus:innen unterdrückt und sie körperlich und moralisch gefoltert und gedemütigt hat.»

Aussenminister Cassis war bis anhin weitgehend inaktiv, was den Einsatz für die Freilassung von Natallia Hersche betrifft. Das Schweizer Aussendepartement übernimmt sogar die Forderung des belarusischen Regimes, Natallia Hersche müsse ein Gnadengesuch an Diktator Lukaschenko stellen. Mit einem solchen Gnadengesuch müsste die willkürlich inhaftierte Natallia Hersche jedoch ihre Schuld bekennen und ihr unrechtmässiges Gerichtsurteil akzeptieren. 

Nun fordert eine breite Frauen-Allianz mit einem Offenen Brief den Bundespräsidenten Cassis dazu auf, endlich ernsthafte diplomatische Bemühungen aufzunehmen, um Natallia Hersches Freilassung zu erwirken. Unter den Unterzeichner:innen sind 14 Schweizer Frauen-Organisationen und 22 Persönlichkeiten, unter ihnen die WOZ-Journalistin Anna Jikhareva, die Nationalratspräsidentin Irene Kälin und die Opernsängerin Regula Mühlemann.

Die Nationalrätin Barbara Gysi hat eine Gefangenen-Patenschaft für Natallia Hersche übernommen und hält fest: «Wir müssen uns bewusst sein, was eine politische Haft in Belarus bedeutet: Die hygienischen Verhältnisse sind katastrophal, den Gefangenen wird medizinische Versorgung oft verwehrt. Es gibt zahlreiche Berichte von Folter und Misshandlung. Aus diesen Verhältnissen muss Natallia Hersche umgehend befreit werden. Ausserdem muss sich die Schweiz entschieden für die Freilassung aller fast 1000 politischen Gefangenen einsetzen.»

Natallia Hersche wird ein weiteres Jahr unter prekären und gesundheitsschädigenden Haftbedingungen verbringen müssen, sollte die Schweiz weiterhin passiv bleiben. Libereco fordert daher den Bundesrat mit einer Online-Petition, die bereits mehr als 8000 Unterschriften zählt, zu wirtschaftlichen Sanktionen gegenüber Belarus auf. Nina Steffen, die Vize-Präsidentin von Libereco Schweiz, gibt ausserdem zu bedenken: «Während Natallia Hersche weiterhin in Belarus festgehalten wird, bleiben die Personen, die unmittelbar für ihre Haftstrafe verantwortlich sind, weitgehend unbehelligt. An ihrer Verurteilung waren insgesamt sechs Staatsanwält:innen und Richter:innen beteiligt. Davon ist nur eine Person auf der Sanktionsliste der EU und der Schweiz geführt. Die anderen fünf Personen können weiterhin in die Schweiz einreisen und ihre Vermögen hier deponieren. Libereco fordert Bundespräsident Cassis daher dazu auf, sich dafür einzusetzen, dass alle am Urteil gegen Natallia Hersche beteiligten Staatsanwält:innen und Richter:innen auf die Sanktionsliste gesetzt werden.»

 

Der offene Brief an den Bundespräsidenten Ignazio Cassis im Wortlaut:

Sehr geehrter Herr Bundespräsident Cassis

Seit über einem Jahr sitzt die schweizerisch-belarusische Doppelbürgerin Natallia Hersche in Belarus im Gefängnis.

Am 19. September 2020 nahm sie an einer Frauenkundgebung in Minsk gegen das Regime von Diktator Lukaschenko teil und wurde dabei willkürlich verhaftet. Im Dezember 2020 wurde sie in einem Schauprozess zu einer drakonischen Gefängnisstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Unsere Mitbürgerin, die sich für Frauen- und Menschenrechte sowie für Demokratie einsetzt, ist seither eine Geisel des belarusischen Regimes. Genau wie die inzwischen über 900 weiteren politischen Gefangenen in Belarus.

Die Oppositionsbewegung, angeführt von dem Frauentrio Swetlana Tichanowskaja, Valeria Tsepkalo und Maria Kolesnikowa, und die daraus folgenden Frauenmärsche waren für viele belarusische Frauen ein emanzipatorischer Akt. Laut einem Bericht von Amnesty International sind Frauen überproportional von den Menschenrechtsverletzungen in Belarus betroffen. Diskriminierung aufgrund geschlechterspezifischer Stereotypen und patriarchalen Rollenbildern konnte bereits im Vorgang zu den Präsidentschaftswahlen beobachtet werden. In der Behandlung von weiblichen Protestierenden und politischen Gefangenen werden sie ein weiteres Mal offenbar.

Amnesty International führt diese Misogynie direkt zum Machthaber Lukaschenko zurück, der Frauen öffentlich im Staatsfernsehen sexistisch beleidigt und somit die Spirale der Gewalt weiter antreibt. Frauen, die sich politisch in der Opposition engagieren, werden regelmässig mit sexueller Gewalt bedroht oder damit, dass die Behörden ihnen ihre Kinder wegnehmen würden. Frauen wie Natallia Hersche, die als politische Gefangene in Haft sind, fehlt es oft an grundlegenden Dingen. In politischer Gefangenschaft sind sie dem Regime ausgeliefert und leben unter ständiger Androhung geschlechtsspezifischer Gewalt.

Die Schweizer Regierung hat bisher zu wenig getan, um die Freilassung von Natallia Hersche zu erreichen. Es genügt nicht, die Sanktionen der EU gegenüber Belarus zu übernehmen. Es braucht mehr politischen Druck und entschiedenere Massnahmen gegen ein Regime, das sich täglich schweren Menschenrechtsverletzungen schuldig macht!

Wir fordern den Bundesrat zu gezielten bilateralen Sanktionen auf: Für alle belarusischen Regierungsmitglieder soll ein Einreiseverbot verhängt werden. Das belarusische Staatsfernsehen soll auf die Sanktionsliste gesetzt werden, sodass Schweizer Firmen wie Nestlé oder Sandoz dort nicht mehr werben können.

Ausserdem fordern wir Sie in Ihrem Amt als Bundespräsident dazu auf, sich persönlich bei Machthaber Lukaschenko für Natallias sofortige und bedingungslose Freilassung einzusetzen. Die Unterzeichnung eines Gnadengesuchs, die vom belarusischen Regime als Bedingung für die Freilassung gefordert wird, ist nicht akzeptabel. Dies würde ein Schuldeingeständnis bedeuten. Natallia, die unschuldig im Gefängnis sitzt, lehnt dies entschieden ab  genau wie die führende Oppositionspolitikerin Maria Kolesnikowa, die ebenfalls seit über einem Jahr in Belarus als politische Gefangene inhaftiert ist und zu 11 Jahren Haft verurteilt wurde.

Treten Sie dem verbrecherischen Regime, das solche mutigen Frauen und hunderte weitere unschuldige Menschen in Geiselhaft hält, endlich entschieden entgegen! Holen Sie Natallia nach Hause!

Mit freundlichen Grüssen

Barbara Gysi, Nationalrätin und Gefangenen-Patin von Natallia Hersche
Claudia Friedl, Nationalrätin und Mitglied der Aussenpolitischen Kommission
Nina Steffen, Vize-Präsidentin Libereco – Partnership for Human Rights
Anna Jikhareva, Reporterin WOZ – Die Wochenzeitung
Bettina Ryser Ndeye, Generalsekretärin ACAT-Schweiz
Cfd / Die feministische Friedensorganisation
Ella Rumpf, Schauspielerin
Evelyne Sydler und Denise Mäder, Co-Präsidentinnen glp Frauen Schweiz
Feministischer Streik St.Gallen
feministischer verein kanton solothurn
Feministisches Kollektiv Winterthur
Feministisches Streikkollektiv Zürich
Franziska Ryser, Nationalrätin Grüne Schweiz und Gefangenen-Patin
Franziska Schutzbach, Soziologin
Frauen*streikkollektiv Bern
frauenrechte beider basel / frbb
Frauenzentrale Zürich
Irene Kälin, Nationalratspräsidentin
Jolanda Spiess-Hegglin, Aktivistin und Feministin
Julia Küng, Co-Präsidentin der Jungen Grünen Schweiz
Leonie Rohner, Libereco – Partnership for Human Rights
Leonie Ruesch, Libereco – Partnership for Human Rights
Luna Wedler, Schauspielerin
Maya Graf und Kathrin Bertschy, Co-Präsidentinnen Alliance F
Medienfrauen Schweiz, Vorstand
Nora Scheel, Campaignerin, Campax Kampagnenorganisation
Omas gegen Rechts
Regula Mühlemann, Opernsängerin
Schweizerischer Verband für Frauenrechte / SVF-ADF
Silvia Süess, Mitglied Redaktionsleitung WOZ – Die Wochenzeitung
SP Frauen
Valeska Steiner, Musikerin
Verein Feministische Wissenschaft Schweiz / Association suisse Femmes Féminisme Recherche
WIDE Switzerland

Der offene Brief als PDF.