Kseniia Levadna, der Gemeindevorsteher und Ira Ganzhorn vor dem Gemeindehaus, Juni 2024

Ira Ganzhorn, Humanitarian Aid Officer bei Libereco, hat im Juni 2024 unser Projekt „Fenster für die Ukraine“ in der Region Cherson besucht. Sie berichtet von eindrücklichen Begegnungen mit Menschen, deren Häuser durch den russischen Angriffskrieg beschädigt und im Rahmen unseres Projekts mit neuen Fenstern ausgestattet wurden. Lesen Sie im folgenden den Bericht von Ira Ganzhorn.

 

„Im Juni 2024 war ich erneut in der Ukraine unterwegs. Diesmal war ich mit meiner Kollegin Kseniia in der Region Cherson, im Süden der Ukraine, die lange unter russischer Okkupation stand und teilweise immer noch steht. Eines der dortigen Schicksale möchte ich im Folgenden teilen.

Unterwegs in ehemals besetzten Orten

Wir kommen an Befestigungslinien vorbei, an ausgehobenen Schützengräben. In den Bäumen am Straßenrand flattern in regelmäßigen Abständen weiße Bänder. Sie waren einmal rot, sind nun von der Sonne ausgebleicht. Sie zeigen uns an, dass das Gebiet vermint ist. Minenräumfahrzeuge kreuzen unseren Weg. Der Asphalt ist hier dein bester Freund und Verbündeter.

Wir sind hier, um eines unserer Projekte zu besuchen. Wir fahren zu einem der Häuser, in denen unsere Partner neue Fenster eingebaut haben. Doch schon von Weitem erkennen wir, dass das Haus nicht mehr existiert. Es ist komplett zerstört worden, nur drei einsame Wände ragen aus einem Schutthaufen empor.

Fragend sehe ich zum Rest des Teams: Sind wir vielleicht am falschen Ort? Wo sollen hier unsere Fenster eingebaut worden sein? Wir werden von einem schätzungsweise 40 Jahre alten Mann empfangen. Er sieht unsere fragenden Gesichter und erzählt uns seine Geschichte. Warum er weiterhin hier lebt, wo doch fast alles kaputt ist.

Das Autowrack zeugt von der Zerstörung durch die russischen Angriffe.

Präzisionsbombe trifft Wohnhaus

Als die russischen Truppen im Februar 2022 einmarschiert sind, war er in der Stadt Cherson, rund 150 Kilometer entfernt. Alles sei so schnell gegangen, er habe keine Zeit gehabt, zu seinen Eltern zurückzukehren und sie in Sicherheit zu bringen. Über ein Jahr dauerte die Okkupation. Innerhalb dieser Zeit war es ihm nicht möglich, seine Mutter und seinen Vater zu erreichen. Direkt nach der Befreiung der Region im Spätsommer 2023 machte er sich auf den Weg zu seinen Eltern. Er fand das zerstörte Haus – und zwei Grabsteine davor.

Neben dem zerstörten Haupthaus und einer ausgebrannten Garage sind nur noch zwei kleine Nebengebäude mit jeweils einem Raum übriggeblieben. In jene wurden unsere gespendeten Fenster eingebaut. Denn er möchte hierbleiben, als letzte Verbindung zu seinen Eltern und einer glücklicheren Vergangenheit.

Während wir in der Sommersonne stehen und auf die Überreste eines anderen Lebens blicken, erzählt er weiter: Seine Eltern seien elf Tage vor der Befreiung getötet worden. Eine 25 Kilogramm schwere Präzisionsbombe habe das Haus getroffen. Sein Vater war auf der Stelle tot, seine Mutter verstarb drei Tage später an ihren schweren Verletzungen.

Die Opfer des Krieges nicht vergessen

Einen Tag vor dem Angriff sollen russische Soldaten zum Haus der Eltern gekommen sein, erzählen uns Nachbarn. Sie wollten das Auto der Familie konfiszieren, das nun ausgebrannt im Innenhof steht. Die Eltern hätten sich geweigert, ihr Fahrzeug herzugeben und mit den Soldaten diskutiert. Diese bedrohten daraufhin die Eltern, zogen aber nach einiger Zeit ab, nicht ohne eine letzte Drohung. Sie sollen dem Ehepaar gesagt haben, dass sie ihre Sturheit noch bitter bereuen würden.

Wenige Stunden später traf die Bombe das Haus. Außer Schutt und dem Autowrack ist nichts mehr übrig. Inmitten des Gerölls liegen die letzten persönlichen Gegenstände. Ein Aktenkoffer, ein einzelner Schuh, ein Telefon. Viel mehr ist nicht mehr übrig vom Leben der Eltern.

In der heißen Sommerhitze von Cherson können wir nicht mehr tun, als zuzuhören und unser Mitgefühl auszudrücken. Keine Worte können den Schmerz des Sohnes nehmen, keine Worte die Getöteten zurückbringen. Wir können zuhören und versprechen, die Geschichten zu erzählen. Versprechen, dass die Opfer des russischen Angriffskrieges nicht vergessen werden. 

Wir bedanken uns bei unserem Gesprächspartner für das entgegengebrachte Vertrauen. Dafür, dass er uns seine Geschichte anvertraut hat. Er winkt ab: Seine Geschichte sei eine von vielen, jeder Mensch hier habe etwas ähnliches zu erzählen. „Klopft an die Türen und sie werden euch vom Grauen erzählen“, sagt er zum Abschied.“

 

Das Projekt wird in Kooperation mit der ukrainischen Organisation AoS und dem Schweizer Verein Re-Win umgesetzt. Wir danken Siemens Caring Hands e.V. für die Finanzierung des Projekts. Weitere Informationen zum Fenster-Projekt finden Sie in diesem Beitrag.

Lediglich zwei Nebengebäude blieben erhalten. Diese erhielten im Rahmen unseres Projekts neue Fenster.