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Nur der Hund schläft weiter

Dariia Khlebnikova arbeitet als Projektleiterin bei unserer Partnerorganisation WBWU. In einem bewegendem Erfahrungsbericht berichtet sie über die nächtlichen russischen Angriffe auf ihre Heimatstadt Charkiw.

Dariia Khlebnikova

Dariia Khlebnikova

Projektleiterin bei WBWU in Charkiw

Nur der Hund schläft weiter

Die letzten Wochen waren aufgrund der Wiederaufnahme der nächtlichen Drohnenangriffe, die nun mit Raketenangriffen kombiniert werden, sehr unruhig und angespannt. Auch die Dauer der Angriffe hat zugenommen: Während ein Angriff zuvor etwa 15 bis 20 Minuten dauerte und 6 bis 8 Raketen oder etwa ein bis zwei Drohnen umfasste, dauern die Angriffe nun eineinhalb bis zwei Stunden. Fast jede Nacht. Dutzende Drohnen kreisen über der Stadt und der Region, fliegen in die Stadt hinein oder durchqueren sie auf der Durchreise und halten uns in Spannung und Erwartung.

In den Nächten, in denen wir kein Glück haben, treffen die Angriffe auf die Wohngebiete der Stadt. Normalerweise treffen sie jedoch Infrastruktureinrichtungen – Reparaturwerkstätten, Industriegebiete und Verkehrsknotenpunkte. Einerseits ist das besser als in den Regionen Sumy oder Saporischschja, wo vor allem Wohnhäuser und normale Bürger*innen angegriffen werden – mit vielen Toten und Verletzten, auch Kindern. Aber auch die Angriffe auf Industrie- und Reparatureinrichtungen kommen uns teuer zu stehen. Charkiw ist eine Stadt an der Front; hier gibt es viel Militärpersonal, und ihre Transportmittel, gepanzerten Fahrzeuge und Panzer werden auch hier repariert. Unsere Luftabwehrkämpfer versuchen, diese Angriffe zu minimieren und die Stadt zu schützen, aber leider sind sie nicht allmächtig – und auch der Feind entwickelt seine Drohnen ständig weiter.

Die Hauptangriffe auf die Stadt finden in den schwierigsten Nachtstunden statt, wenn alle schlafen – die „Nachteulen“ schon und die „Frühaufsteher“ noch. Von 2 bis 4 Uhr morgens ist die Stille unheimlich, sogar die Vögel sind still. Es ist heiß, die Fenster sind offen. Du stehst auf, sobald du das charakteristische „Summen” einer Drohne hörst, gefolgt von Gewehrsalven, wenn mobile Luftabwehrbrigaden versuchen, sie abzuschießen. Und schließlich ein Pfeifen und eine Explosion. Die Fenster zittern, die Druckwelle rollt von Zimmer zu Zimmer, das Herz pocht in den Ohren. In letzter Zeit kommen sie paarweise, sodass sich alles innerhalb von ein bis zwei Minuten wiederholt.

Wenn Explosionen in der Nacht zur Routine werden

Dann kann man aufatmen und eilig die Telegram-Kanäle checken, wo über Drohnen- und Raketenbewegungen und die Einschlagsorte der Angriffe berichtet wird. Du tippst Nachrichten in Familienchats, an Freundinnen und Kollegen. Du fragst, ob alle in Ordnung sind, die Finger zittern vor Nervosität oder vielleicht vor Schlafmangel. Das letzte Mal, dass ich so schwierige Nächte hatte, war, als meine Jungs noch Babys waren. Ich dachte, solche Nächte mit zerstückeltem Schlaf lägen hinter uns.

Mir kommt es vor, als würden meine Kinder mittlerweile im Schlaf an den sicheren Ort gehen, still mit geschlossenen Augen dasitzen und dann auch still wieder in ihre Betten zurückgehen. Ich kann danach noch dreißig bis vierzig Minuten lang nicht einschlafen. Mir scheint, als hätten meine Hunde das stärkste Nervensystem. Die Ältere kommt nicht mit uns aus ihrem Bett zum sicheren Ort. Sie würde wohl nicht einmal aufwachen, wenn direkt neben ihrem Ohr eine Explosion hochginge. Der Jüngere rennt uns hinterher und versteht nicht, warum die ganze Familie mitten in der Nacht irgendwo in der Wohnung herumrennt, aber für ihn ist das alles Unterhaltung.

In den letzten Tagen sind solche Nächte zur Routine geworden; es ist sehr schwer einzuschlafen, jedes Geräusch lässt einen reflexartig aus dem Bett springen. Tagsüber führen wir ein normales Leben, gehen zur Arbeit, legen Prüfungen ab und gehen mit unseren Haustieren spazieren. Wir merken die Müdigkeit und die nervliche Anspannung nicht mehr, aber sie lassen uns nicht los. Und jede Nacht fällt es uns schwerer, aufzuwachen und uns an den sicheren Ort zu begeben, und tagsüber weiterzuarbeiten, zu lernen und zu kommunizieren.

Gemeinsam mit WBWU setzen wir verschiedene Projekte in der Region Charkiw um. So betreibt die Organisation im Charkiwer Stadtteil Saltiwka ein unterirdisches Kinderzentrum. In dem  geschützten Raum können Jüngsten spielen, lernen und zusammensein. Das Projekt kannst du hier direkt unterstützen.

Verfasst von

Dariia Khlebnikova

Projektleiterin bei WBWU in Charkiw