Am 31. Januar 2022 ist die Schweizer Staatsbürgerin Natallia Hersche seit genau 500 Tagen in Belarus in Haft. Der Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis ist bisher kläglich daran gescheitert, ihre Freilassung aus den Fängen der Lukaschenko-Diktatur zu erreichen.

Die St. Gallerin, die auch über die belarusische Staatsbürgerschaft verfügt, wurde wegen der Teilnahme an einer Frauen-Kundgebung im September 2020 willkürlich festgenommen und zu 2 Jahren und 6 Monaten Haft verurteilt. Natallia Hersche ist eine von über 1000 politischen Gefangenen, die vom Lukaschenko-Regime unschuldig ins Gefängnis geworfen wurden.

Mit einem offenen Brief an den Schweizer Aussenminister und Bundespräsidenten Ignazio Cassis forderte im Januar eine breite Frauen-Allianz dazu auf, endlich ernsthafte diplomatische Bemühungen aufzunehmen, um Natallia Hersches Freilassung zu erwirken.

Nina Steffen, Vize-Präsidentin von Libereco, hat den Offenen Brief unterzeichnet und erklärt: “Sollte die Schweiz weiterhin passiv bleiben, wird Natallia Hersche ein weiteres Jahr unter prekären und gesundheitsschädigenden Haftbedingungen verbringen müssen. Von den sechs an ihrer Verurteilung beteiligten Richtern und Staatsanwälten wurde bisher nur eine Person auf die Sanktionsliste von EU und Schweiz gesetzt. Hier besteht also klarer Handlungsbedarf, auch die übrigen fünf Verantwortlichen zu sanktionieren. Auch sollte Bundesrat Cassis die Befreiung von Natallia Hersche endlich zur Chefsache machen und persönlich bei Lukaschenko ihre umgehende Freilassung fordern. Bisher entsteht hier leider der Eindruck, Cassis und das Eidgenössische Departement für Auswärtige Angelegenheiten (EDA) sitzen ihren Fall einfach aus.”

Für den Fall, dass Lukaschenko die Freilassung von Natallia Hersche verweigert, fordert Libereco zu wirtschaftlichen Sanktionen gegenüber Belarus auf. Eine diesbezügliche Online-Petition zählt bereits mehr als 8000 Unterschriften.

Wie das EDA gegenüber dem Tages-Anzeiger erklärte, wird die Schweiz in Kürze die neue Schweizer Botschafterin nach Minsk entsenden. Dort solle sie Lukaschenko treffen und ihm als “Staatsoberhaupt” ihr Beglaubigungsschreiben übergeben. Das EDA sieht darin eine Möglichkeit, Natallia Hersche zu helfen. Die Übergabe des Beglaubigungsschreiben der Botschafterin bedeutet faktisch jedoch, dass die Schweiz Lukaschenko als legitimen Präsidenten von Belarus anerkennt. 

Lars Bünger, Präsident von Libereco, kritisiert dieses Vorgehen scharf : “Diese eindeutige Parteinahme für Lukaschenko ist ein Schlag ins Gesicht der über 1000 politischen Gefangenen in Belarus. Dies ist ganz sicher nicht im Sinne von Natallia Hersche. Die offizielle Anerkennung dieses brutalen Diktators sind ein absoluter Tiefpunkt Schweizer Aussenpolitik. Für die seit 500 Tagen andauernde Inhaftierung von Natallia Hersche trägt Bundespräsident Cassis eine klare Mitverantwortung. Denn statt wirkungsvoller Massnahmen gegenüber Belarus erleben wir seit 500 Tagen ein Versagen des Schweizer Aussenministers, das nun in der beschämenden Anerkennung Lukaschenkos als belarusisches Staatsoberhaupt gipfelt.”

Mit der Anerkennung Lukaschenkos als belarusischer Präsident untergräbt die Schweiz die gemeinsame Belarus-Politik der EU und anderer westlicher Demokratien. Dieses Vorgehen widerspricht gleichzeitig den Idealen der Schweizer Bundesverfassung, nach denen die Schweizer Aussenpolitik zuallererst Freiheit und Demokratie stärken soll. Ausserdem verletzt die Schweiz mit der Anerkennung von Lukaschenko ihr ureigenes Prinzip, nach dem die Schweiz nur Länder, aber nie Regierungen und Präsidenten anerkennt. 

Während Svetlana Tikhanovskaya als mutmassliche Siegerin der belarusischen Präsidentschaftswahlen weltweit von Regierungschefs und Staatsoberhäuptern demokratischer Länder empfangen wird, weigert sich der Schweizer Bundesrat, sie zu treffen. Mit dieser Gesprächsverweigerung und der bevorstehenden Anerkennung Lukaschenkos als Präsident ergreift die Schweiz einseitig und in Widerspruch zu ihren Werten von Demokratie und Freiheit Partei für einen Diktator, der für eine staatsterroristische Flugzeugentführung, tausendfache Folter und politischen Mord verantwortlich ist.

Die Interessen der Schweiz in Belarus können auch von einem Geschäftsträger gewahrt werden, der kein Beglaubigungsschreiben an Lukaschenko übergeben muss. Denn leider bleibt festzustellen, dass die Präsenz ausländischer Botschafter in Belarus weder Menschenrechtsverletzungen verhindert noch zur Freilassung auch nur eines einzigen politischen Gefangenen geführt hat. Wie Frankreich und andere Demokratien sollte auch die Schweiz auf die Präsenz einer Botschafterin in Belarus verzichten, wenn der Preis dafür die Anerkennung eines staats-terroristischen diktatorischen Regimes ist.